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Ein kurzer Bericht über das Lehrsystem im Khordong Kloster

Der im Original in Englisch vorliegende Text ist der zweite Teil eines Vortrages mit dem Titel AUSBILDUNG UND ÜBUNG IM KHORDONG KLOSTER, ENTSPRECHEND DEM SYSTEM VON DORJE DRAG; den Chhimed Rigdzin Lama anlässlich des Silberjubiläums des „Sikkim Research Institute of Tibetology“ im Dezember 1981 in Gangtog, Sikkim, gehalten hat. Der erste Teil beschreibt im Detail, welche Texte und Übungen genau und wann im Khordong Kloster praktiziert wurden. Da der Text zu großen Teilen aus Aufzählungen tibetischer Titel besteht, dürfte er vorwiegend für Tibetologen interessant sein und ich habe zunächst von einer Übersetzung der wenigen englischen Passagen Abstand genommen. Der hier vorliegende Textteil ist dagegen eine interessante Ergänzung zur „Kurzen Geschichte des Khodong Klosters“ [Anm. des Übers.]

Leider ist hier nicht der Raum, im Detail auf das vollständige System der monastischen Ausbildung einzugehen, in aller Kürze daher der nachfolgende Bericht.

Wer immer in das Kloster eintrat um sich dem religiösen Leben zu widmen, erlernte zunächst das Alphabet, sowie lesen und schreiben. Üblicherweise traten diese Anfänger etwa im Alter von fünf Jahren ein, aber ich habe auch welche von über achtzehn Jahren gesehen. Auch gab es in meinem Kloster zwei, drei Mönche, die nie lesen und schreiben gelernt hatten, aber alle notwendigen Texte auswendig konnten und gründlich studierten und übten. Sie lernten deswegen nicht weniger als die anderen Mönche und verbrachten so gut wie die gesamte Zeit mit ihren Übungen, da sie nicht durch das lesen von unterrichtsfremden Büchern, wie z.B. über Geschichte, abgelenkt wurden.

Die Kinder begannen also ihre Ausbildung mit lesen und buchstabieren und lernten dann den einige Verse umfassenden Gang Lo Ma [„Lobpreis an Manjushri“]. Wir sind davon überzeugt, daß die Kinder durch das rezitieren dieser Verse intelligenter werden und ein besseres Gedächtnis entwickeln.

Anschließend begannen sie den Text Chos-sPyod Rab-gSal auswendig zu lernen und wenn sie ihn beherrschten, wurden die folgenden Byang gTer-Praxistexte auswendig gelernt: aGro-Ba Kun-Grol, Rig-aDzin gDun-sGrub und Thugs-sGrub Drag-Po-rTsal. Dies war notwendig, da die Mönche während der Übung der Hauptteile aller großen Pujas nicht auf ihren Text blicken duften!

Die traditionelle tibetische- ist von der modernen [westlichen] Ausbildung sehr verschieden. Zum Beispiel sollte im modernen Ausbildungssystem alle schulische Erziehung nach ungefähr zehn Jahren abgeschlossen sein. Im tibetischen System dagegen studierten die Studenten weiter, bis sie in ihren Fächern Meisterschaft erlangt hatten, unabhängig davon, ob dies zehn, zwanzig oder vierzig Jahre dauerte. Das war möglich, weil es in Osttibet keine Notwendigkeit gab, in ein [Lehr-]Berufsleben einzutreten und deshalb auch nicht nach Titeln oder Graden gefragt wurde. Von daher war die Ausbildung im Kloster ausschließlich für den Dharma und aus keinerlei anderen Gründen, weshalb es sich bei den verwendeten Texten auch ausschließlich um Dharma-Texte handelte. Ferner war in den [disziplinarisch] strengen Klöstern wie Khordong (aKhor-gDong), Bane (Ba-gNas), Dodrubchen (mDo-Grub-Chhen), Dzogchen (rDzog-Chhen), Dorje-Drag (rDo-rJe Brags) und anderen selbst die Kavyadarsha-Poesie nicht erlaubt. Der Grund war, dass viele der Verse von Liebe handelten, was als ablenkend für Mönche betrachtet wurde. Ebensowenig wurde Literatur über Historie oder Legenden, weder aus Tibet noch aus anderen Ländern, geduldet. Selbst sehr hohe Dharmageschichten wurden erst zugelassen, nachdem alle Studien abgeschlossen waren, da befürchtet wurde, dass die Studenten von ihren notwendigen Dharmastudien durch diesen oder jenen Text, der leichter zu lesen gewesen wäre, weg gelockt würden.

In Osttibet hatten alle Mönche, selbst die ärmsten, ausreichend Nahrung und Kleidung und waren daher nicht gezwungen, ihre Ausbildung für ihren Lebensunterhalt einzusetzen. Allerdings mußten in Zentraltibet unter Umständen einige Regierungs- oder Verwaltungsdienste geleistet werden.

Die hauptsächlich studierten Texte waren folgende: Über Sutra [Lehrreden des Buddha] und als allgemeine Grundlage der Dul-Bai mDo rTsa-Ba [Vinaya Sutra von Gunaprabha], sowie So-SoThar-Ba mDo u.s.w. über Vinaya [Ordensregeln u. Disziplin]. Weiter die Pramanavartika [„Kommentar zu (Dignagas) `Kompendium der Gültigen Erkenntnis,`“ von Dharmakirti] u.s.w., d.h. die sieben Hauptwerke über Logik [„Sieben Abhandlungen über Gültige Erkenntnis“, alle von Dharmakirti, 7.Jhdt.] der Phar-Phyn mNgon-rTogs-rGyan [„Schmuck der klaren Erkenntnis“], sowie die übrigen vier Texte von Maitreya [„Die fünf Werke Maitreyas,“ geschrieben von Asanga, 4.Jhdt.,siehe Unten]. Der dBu-Ma rTsa-Ba Shes-Rab, der dBu-Ma-rGyan etc. über Madhyamika [Indische phil. Standartwerke von Nagarjuna, Candrakirti, u.a.]. Der mNgon-Pa mDzod und der mNgon-Pa sDus-Pa [„Schatzhaus des Wissens“ von Vasubandhu, 4.Jhdt.] etc. über Abhidharma [Phänomenologie]. Weiter die Bodhicaryavatara [„Eintritt in das Leben zur Erleuchtung“, Mahayana-Standartwerk von Santideva, 8.Jhdt, dtsch Übers. von E. Steinkellner, Diederichs] und die übrigen der dreizehn Bände der Nyingmapa (rNyng-Ma-Pa) Grundlagenstudien [gZung Chen  bCu gSum. Diese Texte sind: 1.Pratimoksha Sutra / 2.Vinaya Sutra von Gunaprabha / 3.Abhidharmasamuccaya von Asanga / 4.Abhidharmakosa von Vasubandhu / 5.Mulamadhyamakakarika von Nagarjuna / 6.Madhyamakavatara von Candrakirti / 7.Catuhsataka von Aryadeva / 8.Bodhicaryavatara von Santideva / 9.Abhisamayalankara, 10.Mahayanasutralankara, 11.Madhyantavibhanga, 12.Dharmadharmatavibhanga, 13.Uttaratantra, alle von Maitreya]

Die Texte über Tantra waren gSang-sNgags Lam-Rim [„Der Stufenweg des Tantra“], Chhos-dByings mDzod und die anderen aus dem mDzod-dBum, Kun-bZang bLa-Maai Zhal-Lung,und der sNgags-Rim von Padma Trinley; sowie Ye-Shes bLa-Ma [von Jigme Lingpa (1729-1798)] und dGongs-Pa Zang-Thal [von Rigdzin Godem(1337-1408)] über die Dzogchen (rDzogs-Chhen)-Lehren.

Es wurden keine Eintrittsgelder oder Kursgebühren für die Studienkurse erhoben und die Studenten benötigten lediglich ihre eigenen Bücher. Die Lehrperiode ging jedes Jahr vom achten Monat bis zum fünften Monat des darauf folgenden Jahres. Die Vorlesungen wurden von Khenpos (mKan-Pos), außergewöhnlichen Khenpos, hohen Lamas oder Experten gehalten. Wer immer die Belehrungen hören wollte, durfte teilnehmen. Allerdings, wenn zum Beispiel hundert Leute anwesend waren, haben vielleicht fünfzig wirklich studiert, während der Rest dachte, dass die Anwesenheit Teil ihrer religiösen Pflichten sei und indem sie dies jeden Tag täten, würde für sie im Dharma schon „etwas heraus schauen“. Jene die gut studiert hatten, wurden Lobpön (sLob-dPon), Dozent, oder Kyorpön (sKyor-dPon), Lehrer, genannt. Im Kloster befanden sich einige Gelehrte, die gewisse Werke fünfzig und mehr Male studiert hatten, denn da es keine Alters- oder Studienzeitbegrenzung gab, konnten sie immer und immer wieder am Unterricht teilnehmen. Aus diesem Grund gab es auch keine Frage von „bestanden“ oder „durchgefallen“. Bei denjenigen, die Experten wurden oder von denen viele Klöster annahmen, dass sie verstanden hätten, wurde davon ausgegangen sie hätten „bestanden“.

Vom ersten Hahnenschrei am Morgen bis Mitternacht gingen die Studenten ihren Studien nach. Unterricht war von fünf Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags. Möglicherweise gaben drei oder vier Khenpos Belehrungen zu unterschiedlichen Themen. Dies war eine allgemeine Darstellung unseres Lehrsystems.

Es gab auch besondere Studiengänge wie etwa Medizin, Stupaarchitektur, Mandalas, Klöster, etc., ebenso wie Malerei, Statuenherstellung u.s.w. Der Text der hierfür herangezogen wurde, war das Werk „Kunsterziehung“ (bZa-Rig Pa-Tra) von Mipham Rinpoche [1846-1912]. Nun mag man ja einwenden, dass weiter oben behauptet wurde, dass die gesamte Ausbildung ausschließlich für den Dharma stattfand und warum ist dann trotzdem in solche anderen Wissensgebiete eingeführt worden? Nun, nach unserer Auffassung ist Medizin ebenfalls Teil des Dharma. Von hundert Ärzten würden fünfzig niemals für Diagnose oder Behandlung in irgendeiner Form Geld annehmen. Nur wenn ihnen jemand Medizin, Heilmittel oder ähnliches anbietet, würden sie es glücklich annehmen, um damit andere Patienten zu behandeln. Auch die im bZa-Rig Pa-Tra beschriebenen Inhalte und Künste sind tatsächlich nur für den Dharma. Manchmal sieht es einfach aus und manchmal ist es sehr, sehr schwierig.

Um ein hoher Gelehrter wie ein Kyorpon in Osttibet oder ein Geshe in Zentraltibet zu werden, braucht es vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre. Aber würde jemand diesen Bildungsgrad mit modernen Studienmethoden erreichen wollen, es würde mehr als zweihundert Jahre dauern! Ich sage das jetzt, weil, erstens, unsere Lehrer einen Lehrinhalt über zwei bis drei Stunden unterrichten, und wenn sie ein bestimmtes Kapitel in einem Werk abschließen wollen, vielleicht sogar vier bis fünf Stunden. Im modernen Bildungssystem dauert eine Unterrichtseinheit dagegen nur 45 Minuten, und bis alle Anwesenden ihren Namen zu Protokoll gegeben haben und die Durchzählprozedur beendet ist, sind noch mal fünf bis zehn Minuten vergangen, so dass für den eigentlichen Unterricht nur 35 Minuten übrig bleiben. Und da der Lehrer dann ständig auf die Uhr schauen muss, wie viel Zeit ihm noch bleibt und ihn das von seinem Unterricht ablenkt, bekommen die Studenten am Ende vielleicht noch 30 Minuten lang Stoff vermittelt.

Zweitens lernen die Studenten im modernen Bildungssystem nur von hier und da zusammengetragene Inhalte, und arbeiten sich nicht systematisch durch jedes Buch von Anfang bis Ende. In Tibet sollte dagegen der gesamte Text vollständig verstanden worden sein. Ebenso brauchten die großartigen Lehrer in Tibet nicht darüber nachzudenken, ob ihre Studenten anwesend waren oder nicht, denn sie wussten, dass alle ihre Schüler lernen wollten. Der Lehrer war vielleicht fünfzig Jahre alt und war sicher, dass alle seine Studenten im Alter zwischen fünfzehn und fünfzig allein aus eigenem Interesse kamen und es gab daher keine Veranlassung, ihre Namen aufzurufen und zu überprüfen ob sie anwesend waren.

Einmal sprach ich mit Dr. P.C. Bagchi darüber, er stimmte mir zu und sagte, wir hätten einen ähnlichen Lehrer wie den eben erwähnten, den Prof. Satendranath Goshe. Eines Tages begann er seine Vorlesung um drei Uhr nachmittags. Er war sehr bekannt, genoss höchsten Respekt und das Publikum war hochkonzentriert. Um neun Uhr Abends kam der Pförtner oder Hausmeister zu ihm und sagte: “Sir, mein Dienst ist beendet!“ Da erst sah er auf die Uhr und beendete den Unterricht. Allerdings gibt es sehr wenige Lehrer wie ihn und deswegen bleibe ich bei dem gesagten: Was in 20 Jahren möglich war, würde mit dem modernen System 200 Jahre dauern. Ich sage hier nichts über relative Grade von Intelligenz, allein das Lehrsystem war so. Ebenso wurden die Lehrer in Tibet zu großen Gelehrten, weil ihnen kein Gehalt bezahlt wurde. Und so dachten sie während des Studiums nur daran, das eigene Verständnis und das der anderen zu vertiefen. Aber im modernen System nehmen selbst Professoren Geld und so können wir nicht wirklich wissen, ob sie gute Gelehrte sind.

Es wurden keine Gebühren bezahlt und alle Studenten brauchten sich über ihr Essen keine sorgen zu machen, denn vom ersten Tag ihres Eintritts im Kloster konnten sie ohne jede Bezahlung Nahrung bekommen. Mönche aus vornehmen Familien wurden das ganze Leben lang von ihren Angehörigen versorgt und einige unterstützten jedes Jahr auch andere mit. Arme Mönche bekamen ihr Essen entweder direkt vom Kloster oder von irgendwelchen reichen Leuten. Zum Beispiel gab es in Khordong Gompa einen Mönch der Pema Leg-De hieß und der kein besonders herausragender Mönch war. Aber seine Familie gehörte zur Mittelklasse und er sponserte den zukünftigen Gelehrten Unterricht und Nahrung für vier bis fünf Jahre. Er lebte in einem kleinen Haus außerhalb des Klosters, weil die kleinen Kinder beim Aufsagen ihrer Texte eine Menge Lärm machten...

In Tibet gab es ein Sprichwort, Chhos-Pa Ri-La sDud-Na Zan Gong Gyen-la Ril:

Selbst wenn ein Dharma-Übender auf einem Berggipfel lebt,
das Essen wird zu ihm hinauf rollen.

Hinzufügungen und Ergänzungen zum besseren Verständnis insbesondere im Absatz über die studierten Schriften sind in [...] gesetzt. Tibetische Titel sowie (...) entstammen dem engl. Original. Leider gibt es von den erwähnten Schriften kaum eine deutsche Übersetzung, wohl aber Übertragungen ins Englische, Französische und Dänische. Für eine ausführliche Bibliographie siehe: S.H. Dalai Lama „Einführung in den Buddhismus,“ (Herder Spektrum), sowie Auszüge im „Systematischen Studium d. Buddhismus“, Tibetisches Zentrum, Hamburg.

Übersetzung aus dem Englischen von Torsten Kratt                        Sattelhof den 7. Dezember 1998

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